UNEARTHED #10 präsentiert: JOHN LEMKE (mit Interview)

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Von John Lemke’s neuestem Album „Thawlines“ haben wir bereits zur Veröffentlichung vor drei Monaten geschwärmt. Es ist das dritte Album des in Glasgow lebenden Komponisten und Sound Designers, der mit seinem Solowerk zahlreiche Spagate und raffinierte Manöver vollführt…

Minimalismus und Detailreichtum geben sich hier die Hand. Ruhe, beinahe Stillstand, und Regung wechseln sich spielerisch ab. Zurückhaltung bricht plötzlich in Übermut aus, nur um sich gleich wieder in Melancholie aufzulösen. Beklommenheit wird zum Freudentaumel. Ebenso wird sich elegant zwischen Electronica, moderne Klassik und Post-Rock bewegt und deren Grenzen dabei aufgelöst.

„Thawlines“ wird uns dieses Jahr in den kalten Wintermonaten sicherlich noch ein paar mal die Ohren wärmen. Denn der Winter, besser gesagt – der „strenge finnische Winter“, ist ja das große Thema und Inspiration für das Album gewesen. Aber statt winterliche Kälte liefert es eine Klangdecke zum wärmen – eben perfekt für triste, kalte Winterabende.

John Lemke’s Titel Overture (Of Futures Past) wurde in der zehnten Episode von UNEARTHED vorgestellt. Mehr über Inspiration, Einflüsse und die Arbeit an diesem Album, erfahrt ihr im nachfolgenden UNEARTHED Interview mit dem Künstler.

Mehr von seinem Solowerk gibt es auf den vorhergehenden Alben People Do (2013) und Nomad Frequencies (2015) und auf der EP Walizka zu hören, welche zwischen den beiden Alben veröffentlicht wurde. Alle Veröffentlichungen sind bei Denovali, Bandcamp und vielen weiteren Plattenläden erhältlich. Seine zahlreichen Kompositionen für Film & TV sind auf seiner Website nachzuhören.

 

 

DAS UNEARTHED INTERVIEW MIT JOHN LEMKE

KAE: Wir beginnen mit der traditionell ersten UNEARTHED Frage: Beschreibe deine Musik in fünf Worten!
JL: Erdig, oszillierend, mit Zeit gereift.

KAE: Dein neues Album „Thawlines“, welches am 27. Mai dieses Jahres veröffentlicht wurde, wurde von einer Reise nach Helsinki und der „ersten Begegnung mit dem strengen finnischen Winter“ inspiriert, die eine zweite Reise nach Finnland mit einem Aufenthalt in der Nähe des Polarkreises nach sich zog. Wo genau fand dieser Aufenthalt statt und wie war das Leben dort?
JL: Der Aufenthalt fand in Mustarinda statt, einem kleinen, von Künstlern geführten Bauernhof in der Nähe von Hyrynsalmi, direkt südlich des Polarkreises. Man fühlt sich dort völlig abgeschnitten vom Rest der Welt, vor allem im Winter. Ich blieb dort nur ein paar Wochen, aber die Abgeschiedenheit in dieser extremen Umgebung war der perfekte Weg, um die Emotionen meiner ersten Reise wieder zu verarbeiten und meine Energie auf das neue Album zu konzentrieren. Ich habe dort zwar nicht viel Material aufgenommen, aber die Erfahrungen, die einsamen Spaziergänge, die Klänge, die Sehenswürdigkeiten und die Atmosphäre des Ortes hatten einen großen Einfluss auf das Album.

KAE: Das Album ist ein sehr schönes und delikates musikalisches Werk. Obwohl die Stücke instrumental sind, scheinen sie zu sprechen und Geschichten zu erzählen, mit einer großen Bandbreite an Emotionen. Welche anderen Erfahrungen und Einflüsse sind in das Album eingeflossen, abgesehen von dem bereits erwähnten strengen finnischen Winter?
JL: Vielen Dank – ich bin froh, dass du diesen Eindruck hast. Die ursprüngliche Idee war einfach, die Eindrücke meiner ersten Reise nach Helsinki im Jahr 2011 zu vertonen, die aus verschiedenen Gründen einen echten Wendepunkt in meinem Leben darstellte. Nach der Residenz in Mustarinda einige Jahre später war ich mit vielen verschiedenen Soundtrack-Aufträgen sehr beschäftigt. Und ehe ich mich versah, waren fast weitere fünf Jahre vergangen, mit nur wenigen Lücken, in denen ich die Ideen für das Album richtig entwickeln konnte. So wurde zwangsläufig vieles aus dem gelebten Leben und den Emotionen dieser Jahre ebenso einflussreich. Ich habe in dieser Zeit meinen Vater verloren und bin im selben Jahr selbst Vater geworden, so dass allein diese beiden Erfahrungen einen sehr großen Einfluss hatten. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum das Album so nostalgisch und melancholisch klingt. Nachdem es als sehr kalte, elektronische Platte konzipiert war, fühlte ich mich mehr zu akustischen Instrumenten und bestimmten Erinnerungen an Klänge aus meiner eigenen Kindheit hingezogen, seien es Besonderheiten aus der Plattensammlung meiner Eltern oder die Soundtracks von Kindersendungen aus den 80er Jahren. Man könnte also sagen, dass in diesem Album viel verdaut wurde.

KAE: Du hast sechs Jahre lang an Thawlines gearbeitet, was eine sehr lange Zeit ist. Du hast beschrieben, dass du die Stücke auf diesem Album „über mehrere Jahre hinweg mit langen Pausen zwischen den Aufnahmen entwickelt hast, um die Ideen in der Zwischenzeit etwas gären zu lassen“. Wie fühlt es sich an, sie endlich der Welt zu geben, nachdem du sie so lange Zeit für dich allein hattest?
JL: Das ist eine sehr gute Frage. Ich gebe zu, dass sechs Jahre eine lächerlich lange Zeit sind, um an einem Album zu feilen. Es gab viele lange Lücken zwischen den kreativen Phasen, aber diese Arbeitsweise war wirklich ideal für dieses spezielle Werk, denn so konnten die Songs atmen und sich im Laufe der Zeit auf eine Art und Weise entwickeln, wie sie es sonst nicht hätten tun können. Das Problem ist natürlich, dass man nach all dieser Zeit das Gefühl hat, dass alles noch ein bisschen wertvoller ist. Man baut auch einige unrealistische Erwartungen auf, was immer ungesund ist. Aber ich habe jetzt losgelassen und fühle mich umso besser dabei.

 

„Erscheinung in den Wäldern“ – Photo von John Lemke

 

KAE: Im Gegensatz zu deinen vorherigen Veröffentlichungen, die Soloprojekte und eher elektronisch sind, hast du dich dieses Mal für die Zusammenarbeit mit anderen Musikern entschieden, um dem Album einen „bandorientierten Sound“ zu verleihen. Wie wurde dieser gewünschte Sound in der Praxis umgesetzt, waren alle zur gleichen Zeit im Studio anwesend?
JL: Die Einbindung der anderen Musiker war eines der letzten, aber sehr entscheidenden Puzzleteile. Unglücklicherweise fand das Ganze mitten in der Pandemie statt. Clive Deamer (Schlagzeug), Pete Harvey (Cello) und Urška Preis (Harfe) haben alle ihre Parts zu Hause oder in ihren eigenen Studios aufgenommen. Ich hätte mir viel lieber einen Raum mit ihnen geteilt, andererseits ist es eine der wenigen genialen Errungenschaften unserer Zeit, dass solche Fernaufnahmen möglich sind. Außerdem war es eine schöne Möglichkeit, in einer ziemlich isolierten Zeit zusammenzuarbeiten und Kontakte zu knüpfen.

KAE: Wird es Live-Auftritte von Thawlines geben?
JL: Es wird am 11. November eine Live-Präsentation des Albums im Centre for Contemporary Arts in Glasgow mit einer kompletten Band geben. Es war schon immer mein Traum, die Stücke so aufzuführen, wie sie geschrieben wurden, was bedeutet, dass es mit einer kompletten Band sein muss. Ich bin mir nicht sicher, ob es danach noch weitere Live-Auftritte des Albums geben wird, denn mit einer sechsköpfigen Band auf Tournee zu gehen, ist heutzutage kein leichtes, wirtschaftliches Unterfangen. Ich würde aber gerne nächstes Jahr ein kleineres Ensemble zusammenstellen, um zu sehen, ob wir ein paar Termine in Europa wahrnehmen können, was fantastisch wäre.

KAE: Du hast Sounddesign studiert und arbeitest als TV- und Filmkomponist. Welchen Einfluss hat deine professionelle Arbeit auf dein künstlerisches Schaffen?
JL: Vor allem erlaubt sie mir, mit Musik zu arbeiten und jeden Tag zu lernen, wofür ich unglaublich dankbar bin. Wenn ich an meinem eigenen Material arbeite, habe ich oft lange Phasen der Schreibblockade oder Inspirationslosigkeit, in denen die Ideen nicht so recht zusammenpassen und man anfängt, an sich selbst zu zweifeln. Bei der Arbeit an Soundtracks hat man diese Probleme in der Regel nicht, weil man auf der Grundlage eines Auftrags und als Teil eines Teams arbeitet. Es hat etwas Beruhigendes, die Vision eines anderen zu bedienen. Ich genieße also beide Erfahrungen, auch wenn sie sich nur bis zu einem gewissen Grad gegenseitig beeinflussen. Das einzige Problem ist, dass es mir schwer fällt, gleichzeitig an Soundtrack- und Soloprojekten zu arbeiten – ein gewisser Abstand zwischen den beiden ist notwendig – deshalb hat die Fertigstellung von Thawlines auch so lange gedauert.

 

„Aufnahmen in Mustarinda“ – Photo von John Lemke

 

KAE: Meines Wissens nach wurdest in Berlin geboren und lebst jetzt in Glasgow. Wie hast du dich in Schottland eingelebt? Und wie sieht die Musikszene dort aus?
JL: Ich bin eigentlich in den USA geboren, aber in Berlin aufgewachsen. Kurz nach meinem Schulabschluss kam ich zum Studieren nach Schottland. Durch frühere Reisen fühlte ich mich irgendwie mit Schottland verbunden, auch wenn es im Nachhinein betrachtet alles eine reine Laune war. Ich habe in Edinburgh Theater- und Sounddesign studiert und habe bald in Bands gespielt. Dann habe ich mich mehr auf Filmmusik konzentriert und bin schließlich nach Glasgow gezogen, weil ich mich nach der urbanen Atmosphäre sehnte, in der ich aufgewachsen bin. Es ist ein seltsamer Ort und sicher nicht für jeden etwas, aber ich mag ihn sehr. Die Menschen hier gehören zu den besten und gastfreundlichsten, die man finden kann, und es ist wirklich eine Musikstadt. Ich bin sicherlich kein Szenegänger, aber es gibt eine enorme Menge an Talenten, sowohl aus dem eigenen Land als auch aus dem Rest der Welt, die die Stadt zu einem aufregenden Musikziel machen. Und deshalb lassen sich auch die interessantesten Künstler nicht entgehen, hier zu spielen.

KAE: Welche fünf Künstler oder Bands – zeitgenössisch und aktiv – möchtest du unseren Zuhörern und Lesern empfehlen?
JL: Circuit Des Yeux, Susan Bear, Everyday Dust, Deradoorian, Ela Orleans

KAE: Verrate uns bitte, was in naher Zukunft zu erwarten ist?
JL: Das Hauptaugenmerk wird darauf liegen, unsere Band zusammenzubringen und zu proben, um uns auf die Veröffentlichung des Albums im November vorzubereiten, um das Album wirklich in die Welt zu bringen. Die nächste Veröffentlichung wird mein neuester Soundtrack für Marie Lidéns Dokumentarfilm Electric Malady sein und dann hoffentlich ein neues Album in weniger als sieben Jahren!

 

„Eiszapfen“ – Photo von John Lemke

 

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